Salon

10/2024Gutes Geld, Requiem, Hararis Nexus, GegenStandpunkt, Meta-Degrowth, Taylor Lorenz, Arktische Geopolitik, KI als Erfinder

Wer über Arbeitslosigkeit als notwendiges Übel nachdenkt, das von der Natur gegeben und von heldenhaften Politikern abzuwenden ist, könnte in die Ecke der Marxisten gestellt werden. Denn damals dachte man so – mit Recht. Als „Das Kapital“ erschien, verdoppelte sich die Bevölkerung in 50 Jahren. Das ist eine Ewigkeit her. Und heute? Die Bevölkerungsexplosion ist vorbei, das Elend ist eingedämmt, und trotzdem bleiben die Mythen, dass irgendwer sich gegen Gottes Plan wehrt und mit Bürgergeldentzug zur Arbeit zu zwingen ist. Was ist da los? Falsche Begriffe von „Arbeit“, „Geld“, „wirtschaftlichem Nutzen“ und „Kredit“, sagt Philippa Sigl-Glöckner. Sie stellt in ihrem spektakulären Buch über „Gutes Geld“ wirklich alles vom Kopf auf die Füße. Wir besprechen es ausführlich. Danach trägt Wolfgang ein Requiem vor, und Stefan kritisiert Hararis „Nexus“. Außerdem besprechen wir heute den aktuellen GegenStandpunkt und geben der Redaktion ein paar überhebliche Empfehlungen.

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Literatur

  1. Heute erscheinen die Schuldenregeln in Deutschland und der EU wie mathematische Gesetze, dabei haben machtgetriebene Politiker sie erfunden und wussten dabei selbst nicht, wie ihnen geschah. In ihrem Buch “Gutes Geld” erzählt Philippa Sigl-Glöckner die Historie der Schuldenregeln und zeigt, wie man daraus ausbrechen könnte. luebbe.de
  2. Der Autor Alexander Schnickmann legt mit “Requiem” einen Roman in Versen vor, dessen Sprachkunst originell und ungeheuer virtuos ist. Der Weltuntergang kann sehr poetisch sein. matthes-seitz-berlin.de
  3. Yuval Noah Hararis neues Buch „Nexus“ ist zu lang und inhaltlich eher enttäuschend. Man wünscht sich mehr Analyse seiner Ideen, bekommt aber vor allem hunderte Seiten überflüssige Illustrationen. penguin.de
  4. Die linksradikale, staatskritische Zeitschrift “Gegenstandpunkt” führt ein Nischendasein, wir haben uns die aktuelle Ausgabe angesehen. gegenstandpunkt.com
  5. Degrowth-Studien gibt es viele, aber was taugen diese Forschungen wirklich? Eine Meta-Studie von Ivan Savin und Jeroen van den Bergh fördert Erschreckendes zu Tage. sciencedirect.com
  6. Taylor Lorenz verabschiedet sich von der Washington Post und gründet “Usermag”. Ihre begleitende Erklärung gilt für alle Sparten des gegenwärtigen Journalismus. usermag.co
  7. Die Geopolitik spielt sich auch in der Arktis ab. Eine Weile setzten die Mächte auf Kooperation, das hat sich seit Beginn des Krieges in der Ukraine geändert, berichtet Didier Ortolland in “Le Monde Diplomatique”. monde-diplomatique.de
  8. Der BGH entschied: KI kann kein Erfinder sein, in Patenten müssen lebende Personen stehen. Der Anwalt Daniel Pfahler kommentiert den Beschluss in der Zeitschrift “Kommunikation & Recht” 10/24.
  9. Franz Schuberts “Winterreise” gehört zu den schönsten Liederzyklen überhaupt. Nun gibt es eine wunderbare Neueinspielung von Bariton André Schuen, begleitet von Daniel Heide am Klavier. deutschegrammophon.com

 

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Stefan
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Wolfgang
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Mathias

5 Gedanken zu „Gutes Geld, Requiem, Hararis Nexus, GegenStandpunkt, Meta-Degrowth, Taylor Lorenz, Arktische Geopolitik, KI als Erfinder

  1. Enno

    Ich möchte kurz von Harari sprechen, einem Autoren, von dem ich über die Jahre sehr desilluisoniert geworden bin. Ich habe seine ersten 3 Bücher gelesen und merke nun da ich studierter Historiker bin (oder es zumindest beinahe bin, es fehlen nur noch einige Monate), wie sehr er die Geschichte als Vehikel missbraucht um alles zu erklären ohne es zu erklären zu dekonstruieren ohne etwas konstruieren.

    DIe Kritik die Stefan äußert ist richtig, lässt sich aber schon an seiner Menschheitsgeschichte äußert, wenn er erstmal klarstellt, dass alle Strukturen, Staaten, Firmen etc. fiktional sind. Das ist ja am Ende für niemanden etwas neues. Ich möchte es kurz so darstellen:

    Als Historiker versagt er, wenn er ein solches Argument macht, weil es die Aufgabe eines Historikers ist Phänomene im Kontext ihrer Gegenwart zu erklären und dadurch eine Vergangenheit zu konstruieren. Das tut er hier aber eben nicht, da in seinem Buch über die „Menschheitsgeschichte“ beständig außergeschichtliche Argumente macht, also Argumente die außerhalb des Erklärungsraums der Geschichte liegen. Die Geschichte kann klären, ob eine Ideologie zu einem Zeitraum X vorliegt und auch was sie bewirkt. Die Geschichte kann aber nicht definieren was eine Ideologie ist oder ob soziale Entitäten Fiktion oder Realität sind. Die Instititutionen als sinnstiftende Entität sind ein Postulat der Geschichtswissenschaft. Man kann sie also nicht mit Mitteln der Geschichtswissenschaft erklären sondern muss sie muss Mitteln außerhalb der Geschichtswissenschaft erklären.
    Wenn man aber jetzt das ganze als soziologische oder philosophische Argumente nimmt, dann macht er auch damit wenig neues und man kann sich fragen welchen Fortschritt er diesen Befund als große Neuigkeit darstellt. Denn die Beschreibung sozialer Entitäten, wie er sie betreibt wirkt neben jedem vernünftigen Soziologen geradezu infantil.
    Ein gutes Beispiel dafür ist, wie er Religionen und Ideologien einfach zusammenwirft und dabei ignoriert, wie z.B. mit der Systemtheorie dargestellt werden kann, dass es in Relgions- und Ideologie um völlig unterschiedliche Begriffe geht.

    Ähnlich scheint es mit seinem neuen Buch zu sein, dass zu lesen ich mir ehrlich nicht mehr vorhabe die Mühe zu machen gedenke, nachdem ich diesen Podcast gehört habe. Harari ist für mich persönlich jemand der erstmal alles dekonstruiert um am Ende darauf zu zeigen und zu sagen „Seht ihr: Es ist alles gleich“.

    Meine Kurzfassung ist: Sein welthistorischer Ansatz macht ihn zu einem schlechter Historiker und seine Soziologie ist bietet keinen wirklichen Erkenntnisgewinn.

    Nachwort: Um kurz über den Hexenhammer zu sprechen: Die Grundidee, dass es sich dabei um eine Medienrevolution handelte und wegen fehlender kritischer Lesefähigkeit zu unzähligen Opfern führte ist übrigens natürlich auch nicht neu, sondern lässt sich mit vielen anderen Medienrevolutionen parallelisieren. Auch z.B. dem Beginn des Massendrucks im 19. Jahrhundert der ebenfalls für die Popularisierung von unglaublich viel Ideenmüll gesorgt hat oder eben das Radio als Medienrevolution, wie im Podcast schon genannt. Diese Erkenntnis lässt sich nutzen um zu Vorsicht vor der Zerstörungskraft neuer Medien zu warnen, aber dafür braucht man nicht Harari lesen, denn die Erkenntnisse die er dabei erbringt sind nicht neu.

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    1. mark the mintman

      Ich versteh den Hass nicht. Ich glaube alle wollen Hararis missverstehen oder ihn einfach als Silicon Valley-Ideengeber abtun.
      Diese Bücher sind nicht durch und durch geschichtswissenschaftlich, sondern Debattenbeiträge. Und es gibt andere Denker, die genauso oder so ähnlich Menschheitsgeschichte konstruieren wie Sloterdijk oder David Graeber (btw Ist diese Betonung von Informationsverarbeitung und -austausch nicht schon ein sehr starker Gegenwartsbezug?)

      Was Leute kaum besprochen haben, sind eigentlich die ideologiekritischen Anteile seiner Bücher, wie wenn er den Dataismus beschreibt und kritisiert bzw. Lücken darin aufzeigt. Was man stattdessen macht, ist zu sagen er würde das propagieren, was aber eigentlich Unverständnis gegenüber dem Text ist. Hier auch dieses er würde Erklärungen „außerhalb der Geschichte“ machen – nein er nimmt eine Ideologie oder Ideen wie sie im Marketing von Silicon Valley vorzufinden sind und strukturiert Geschichte danach bzw sucht Ereignisse als Beispiele, als Probebohrungen. Was die Systemtheorie dazu meint ist einerlei (weil wer mag schon gerne Systemtheorie lesen?), er fragt eher, was die Ingenieure glauben würde oder wie sie es bezeichnen würden. Und das hat dann auch eher was mit der Identität gegenüber Technik zu tun als dass man unbedingt alles erklären will.

  2. Stefan K

    Ich kann das Buch „Schuberts Winterreise“ des englischen Tenors Ian Bostridge jedem empfehlen, der da tiefer eintauchen möchte. Am besten als Hörbuch, bei dem die besprochenen Lieder am Ende der Texte auch gleich dargeboten werden.

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  3. simon

    Ahoi,
    Ich habe gerade dieses Video über die von Wolfgang zitierte Studie über Degrowth angeschaut. https://youtu.be/MoEJJKBnmhM?si=sJLR7mjOBgzFKJIJ

    Darin wird aufgezeigt, das die Studie in „bad faith“ geschrieben ist. Quasi alle qualitativen Studien werden als „Opinion“ abgetan weil sie keine Datenanalyse betreiben. Das ist nun aber oft der Sinn von Qualitativer Forschung.
    Ich bin nun kein ausgesprochener Verfechter vom Degrowth Ansatz, aber diese Studie beweist eigentlich nur das Degrowth viele Feinde hat, die sich nicht zu schade sind erhebliche Methodologische Fehler in ihre eigene Studie einzubauen nur um einen ganzen Forschungszweig in Mißkredit zu bringen.
    So haben sie nur Studien ausgewählt die „Degrowth“ im Namen haben. Dadurch fallen aber sehr sehr viele Studien weg die sich tatsächlich auf einer Daten-Ebene damit beschäftigt haben. Nun ja, die Kritik an der Studie geht noch viel weiter, aber ich belasse es hier erstmal dabei. Es wäre schön wenn ihr eine kurze Einordnung dieser Kritik im nächsten Podcast vornehmen könntet.
    Ansonsten vielen Dank für eure Arbeit und beste Grüße
    Simon

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