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Wir lesen09/2020QAnon Prophecies, 90 Jahre Bourdieu, Instagram Story, Markus Gabriel, Digitale Souveränität, Klassenkampf, Silent Majority

QAnon ist nicht bloß eine Verschwörungstheorie, sondern eine neue Religion. Die Chefredakteurin von The Atlantic, Adrienne LaFrance, hat sich umgesehen und sie hat so darüber geschrieben, dass wir alle erschrecken. Ihre These ist überzeugend. Die ‚Prophezeiungen von Q‘ füllen die Lücke, die die Religionen hinterließen, als sie sich in Organisationen zurückzogen. Aber jetzt sind sie da: Die neuen sakralen Rituale, Texte und Gemeinschaften. Sie kommen auch zu uns nach Europa und sie sind gefährlich. Bei den Querdenkern In Berlin konnte man es bereits sehen. Darauf hat niemand eine Antwort. Markus Gabriel, der beispielsweise mit q-ähnlicher Gottgläubigkeit über moralischen Fortschritt und dunkle Zeiten schreibt, scheitert wie nie ein Philosoph vor ihm. Wir lesen die Einleitung dieses miserablen Versuchs die Dinge zu lenken.

Von der Instragram-Story, wie sie Sarah Frier in „No Filter“ aufschrieb sind wir begeistert. Ein soziales Netzwerk ohne Text, das aus Schnappschüssen kleine Kunst macht und aus Bildern Interaktion, an der man lange bastelt, die aber sofort verfliegt. Dann natürlich kam Facebook und verwandelte alles in ein gigantisches Profitcenter. 200 Millionen Nutzer haben mehr als 50.000 Follower, könnten also schon ein Stück weit am Kommerz teilnehmen. Pierre Bourdieu, der die feinen Unterschiede durch die Fotographie für jedermann kennt, wäre im August 90 Jahre alt geworden. Ingar Solty schreibt seinen Geburtstagsartikel. Zukunft: Felix von Leitner, Fefe, ruft die Bundesregierung auf, Mozilla zu kaufen, Chiphersteller gleich mit, sodass wir in Europa endlich digital Souverän werden. Es wird nicht passieren, aber es ist schön zu lesen, wie einfach es wäre.

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Literaturliste

  1. The Prophecies of Q“ ist ein erschreckender Text über QAnon, der aber mit einer starken These arbeitet: QAnon ist die erste hypermoderne Internet-Religion. Adrienne LaFrance hat wohl recht.
  2. Klaus Dörre: “Die Bundesrepublik – eine demobilisierte Klassengesellschaft”, in seinem Aufsatz setzt sich der Soziologe mit dem Abdriften vieler Arbeiter nach rechts auseinander, zugleich wird das Fehlen einer neuen linken Klassenpolitik analysiert. Erschienen in: Enno Stahl u.a. (Hrsg.): Literatur in der neuen Klassengesellschaft. Wilhelm Fink Verlag.
  3. Digitale Souveränität zum Schnäppchenpreis – von Europa und Mozilla“ Mozilla entlässt jeden vierten Mitarbeiter. Felix von Leitner sagt, die Bundesregierung solle aushelfen und damit auch für ihre digitale Souveränität kämpfen.
  4. Sarah Frier: “No Filter. Die Instagram-Story.” Plassen Verlag. Die Autorin schildert den Aufstieg des Unternehmens: anekdotenreich, hintergründig und kurzweilig.
  5. Selfies and sunsets be gone”, die “Washington Post” beleuchtet einen neuen Trend auf Instagram: PowerPoint-artige Präsentationen zu politischen Themen.
  6. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ ist ein frommer Wunsch von Markus Gabriel.
  7. Bourdieu und mein Vater” – Ingar Solty schreibt in der “Jungen Welt” entlang an der Biographie seines Vaters anlässlich des 90. Geburtstags des Soziologen Pierre Bourdieu über den Klassiker “Die feinen Unterschiede”
  8. What if Facebook Is the Real ‘Silent Majority’?“ Kevin Roose hat sich die Reichweiten der konservativen Schreihälse auf Facebook angesehen und warnt die liberale Blase vor zu viel Optimismus vor der Präsidentenwahl
  9. Jahrelang schwebende Schlammwolken”, Peter Michael Schneider schreibt in “Spektrum” über geplante Bergbauprojekte in der Tiefsee, die ökologisch katastrophale Folgen haben könnten.

9 Gedanken zu „QAnon Prophecies, 90 Jahre Bourdieu, Instagram Story, Markus Gabriel, Digitale Souveränität, Klassenkampf, Silent Majority

  1. Benedikt

    Hallo zusammen! Ich bin neu im Salon und bereue NIX!
    Die ganze QAnon Sache flasht mich ja ungemein. Diese abgespacten Verschwörungsmystik hielt ich ja immer für eine Art Rollenspiel; also ein Fantasiegebilde, was dazu dient der Realität zu entfliehen und von alltäglichen Sorgen Abstand zu nehmen. In Rollenspielen ist man ja niemals ein/e unbedeutende Statist/in, sondern hat Bedeutung. Klar gibt und gab es so Typen wie Axel Stoll, die einfach ein bisschen durchgedreht sind, aber für die meisten, die sich in entsprechenden Foren engagieren – so dacht ich – meinen das nicht ernst. Etwa so, wie im Buch/Film „Fight Club“ das männliche Ego nicht damit umzugehen weiß bedeutungslos zu sein, spinnen sich Mystiker eben genauso ein Gebilde, was ihnen Bedeutung gibt. Vieles hängt ja mit einem „Deep State“ in irgendeiner Form zusammen, den es zu zerschlagen gilt. Darin findet sich dann wieder Bedeutung und Sinn. Das Spiegel TV Video der jüngsten Demos hat dann aber nicht nur frustrierte, ältere Herren gezeigt. Ich war wirklich perplex, weil das überhaupt nicht in meine Vorstellung passte. Stattdessen Männer und Frauen jeden Alters und auch nicht nur Menschen, denen ich jetzt rein äußerlich zuschreiben würde, dass sie nachts um drei im Keller des Elternhauses in dubiosen Foren unterwegs sind.
    Das Netzwerk als Religion zu verstehen, finde ich erstmal plausibel. Allerdings ist das nicht der erste Fall von Religiösität ohne Institution dahinter. Zumindest eine sehr engagierte Tutorin in meinem Studium hatte schon Fandoms nach Gesichtspunkten religiöser Vereinigungen untersucht. Auch hier sind das Communitys, die primär im Internet vernetzt sind. Im Analogen dann vielleicht Conventions anstatt Demos… Wie auch immer, zu Religion gehört ja nicht nur Glaube – oder nach Pollack „Überzeugung (…), die keiner empirischen Bestätigung bedürfen, um als wahr oder real zu gelten“. Das trifft auf QAnon schonmal zu. Hinzu kommt das von euch angesprochene Gemeinschaftsgefühl und gemeinsame soziale Praktiken. Etwa Rituale, deren Bedeutung in der Community allgemein verständlich wird. „Where we go one, we go all“ zum Beispiel. Dazu fällt mir noch ein, in diesen Netzwerken wird auch von „Blue Pill“ und „Red Pill“ geredet in Anlehnung an die Matrix-Filme. „Red Pills“ sind jene, die die Verschwörung erkannt haben, oder, um bei Religionen zu bleiben, bekehrt wurden. „Blue Pills“ sind umgekehrt entweder Häretiker oder Unwissende. So wie in Matrix würde uns ja eine Scheinwelt vorgegaukelt (BRD gibt es nicht, Demokratie nur Fassade und dahinter Strippenzieher) der es zu entkommen gilt. Religion als sinnstiftende Institution findet sich ja auch wieder in der Aufgabe, alle Menschen von der bösen Organisation zu befreien. Finde ich insgesamt sehr schlüssig. Interessanter noch als das Netzwerk als Religion zu identifizieren, finde ich die Frage, wie es dazu kommt. Klar, wenn man weiß, es funktioniert wie eine Religion, weiß man auch wohin man schauen muss für die Funktionsweise, aber es ist ja eben nicht wie jede andere Religion. Zum Beispiel wird in Sekten ein großer sozialer Druck ausgeübt, der Mitglieder darin fesselt. Auf Reddit, 4chan ond Co kannst du aber einfach aufhören zu posten, steigst aus Facebook Gruppen aus und änderst vielleicht noch deine Email Adresse, aber dann bist du auch raus.
    Was QAnon, finde ich, auch von anderen Religionen unterscheidet, ist, dass sie terminiert ist. Wenn der Deep State beseitigt ist, kann sich das Netzwerk nur noch auflösen oder muss eine neue Idee verbreiten.
    Genauso die Frage, warum sich eine Ersatzreligion für Menschen, die offensichtlich das Bedürfnis nach einer haben, gerade so bildet. Wenn es das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist, sehe ich nicht, wozu es die Verschwörungsmystik braucht. Oder wenn es der Wunsch nach Bedeutung ist, wieso dann nicht eine produktive Bedeutung?
    Freue mich über Überlegungen zu den Fragen, denn sie sind nicht rhetorisch!

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    1. Timm

      Bei QAnon frag ich mich, ob das nicht zumindest als Troll oder Spaß angefangen hat und das eine Eigendynamik entwickelt hat.
      4chan ist ein Imageboard, wo man meist eher sowas findet und auf der anderen Seite ist 4chan vergleichbar mit einem Pornhub-Forum. (die Verschwörungstheorien in Dr. Strangelove lassen grüßen)

      Mit „Anon“ kann als „anonym“ übersetzt werden, sodass mit „Anon“ ein Forenmitglied in den chans angesprochen werden kann: Hey Anon, wie geht’s?usw. Und das Q wurde erklär. Darum ist für mich die richtige Aussprache auch Q – Anon.

      Trump selbst bewegt sich vielleicht auch in diesen Sphären: https://www.youtube.com/watch?v=3qR0_HuAlt8

  2. Eva

    Es könnte vielleicht eine Art Trotzreaktion sein, ähnlich wie die, die Kinder durchlaufen. Wenn sie in einem Alter sind, in dem sie selbstständiger werden wollen und dies nicht können, werden sie frustriert und es kommt zu Wutausbrüchen. Eine natürliche Frustrationstoleranz entwickelt sich erst mit den Jahren. Beziehen wir das auf das Erwachsenenalter..Menschen die vielleicht unzufrieden sind mit ihrem Leben werden immer frustrierter, ähnlich wie das Kind. Die Frustrationstoleranzgrenze ist vielleicht nicht mehr sehr hoch und es kommt zu „Trotzreaktionen“, existentielle Wut.. Eine Theorie.
    Dies würde natürlich nicht auf alle zutreffen.
    Die Menschen haben sich immer Dinge gesucht, um die Welt zu erklären. Im Mittelalter waren es die Hexen und heute die Chemtrails. Vielleicht haben sich die Menschen nie wirklich weiterentwickelt.

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  3. Florian Knoop

    Moin, tolle Folge. Gibt es für die Salon-Beiträge auch ein Transskript, so wie für die normalen Folgen? Ich möchte eine bestimmte Stelle nochmal nachhören und weiß nicht mehr in welchem Segment sie vorkam.

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  4. Marie

    Doch, ich finde gerade im Coronadiskurs zeigt sich, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben: die reale Relevanz von Wissenschaft finde ich schon beeindruckend.
    Aber Evas Punkt stimmt m.E. insoweit sie eine psychologische Erklärung gibt. Wenn so starke Gefühle am Start sind (Wut, Hilflosigkeit usw.) ist da wohl immer etwas sehr Fundamentales getriggert worden. Immerhin kennt wahrscheinlich fast jede*r die Schwierigkeit, sich für eine Demo aufzuraffen — oder für irgendwas, das den Alltag stört. Dafür braucht es ziemlich starke Motivation und diese Leute machen das ja.
    Also würde ich sagen, diejenigen, die die wissenschaftliche Wahrheitssuche und den politischen Umgang mit der Pandemie nicht ertragen, leiden sicher an Wut, Angst und Ohnmacht. Vielleicht kommt auch die Lust am Widerspruch oder an der Öffentlichkeit hinzu. Aber es sind und bleiben wenige.
    Dass sie Einfluss auf unser Bild der Gesellschaft haben, ist eine v.a. Frage der Wahrnehmung — und die unterliegt selbstverständlich der Internet-Beschleunigung. Spannend (und riskant) ist, ob die große öffentliche Aufmerksamkeit diesen Ansichten mehr Zuspruch beschert, oder ob es „die Spinner“ bleiben, die das Zeitalter der Aufklärung noch nicht erreicht haben — als solche aber für irrelevant erklärt und gesellschaftlich letztlich ignoriert werden.

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  5. Maggie

    Mir kommt gerade in den Sinn, dass Schulen digital ausgerüstet werden und dazu selbstverständlich browserbasierte – ich nenne es mal – Backupideas – gehören, die Unterrichtsvorbereitung natürlich absolut vereinfachen und z.T. das blended learning erst ermöglichen, indem eben z.B. auch Kolleginnen abgeholt werden können. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass komplette Generationen mit einer einzigen Browserwahl aufwachsen und Alternativen nicht bekannt sind. Und natürlich viel weitreichende Dinge. Aber insgesamt kann ich feststellen, dass das für so viele Digitalidierungsbereiche gerade in Schule gilt, weil momentan dermaßen schnell gestrickt werden muss oder der Eindruck entstanden ist (Mittelvergabe und Fristen) , da die Angst vor einem 2. Lockdown so hoch und die Lieferengpässe so gravierend sind. Fefe hat absolut recht. Gerade wird in digitale Vergangenheit investiert aber nicht in Zukunft. Heiße Nadeln laufen mehr als heiß und jeglicher Einwand Entscheidungen zu prüfen, wird mit begeistertem Enthusiasmus über so lang vermisste Investitionen abgebügelt… Schade

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  6. Stefan

    Hallo Stefan,

    Ich habe die Folge noch nicht gehört, da ich gerne die Literatur der Episode vorher selbst durcharbeite.

    Dazu eine kleine Anregung: Es würde mich freuen wenn ihr in eurer Literaturliste einen kleinen Hinweis darauf geben könntet, ob ihr ein Buch empfehlt oder ob man doch lieber die Finger davon lassen kann. Das würde mir und allen die es so halten wie ich helfen.

    Bis dahin vielen Dank für die vielen Stunden mit euch im Ohr. Ihr seid zur Zeit einer meiner Lieblingspodcast in der deutschen Landschaft.

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    1. Stefan Beitragsautor

      Besprechungen sind im Salon grundsätzlich Empfehlungen. Es sei denn, wir markieren es ganz deutlich im Text, so wie hier. Das ist nun ein Mal vorgekommen.

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