Salon

02/2022Graebers Anfänge, Boomer-Gifs, Autoapokalypse, Hyperpolitik, Fachkräfte, 1 Jahr Gamestop, Klassenjustiz

Nochmal von vorn anfangen, wer wünscht es sich (nicht)? David Graeber und David Wengrow sagen es, wie es ist: Geschichte passiert nur einmal, was geschehen ist, ist geschehen. Aber deswegen braucht man sich ja nicht zu belügen. Dass wir auch ganz anders auf die jüngsten 30.000 Menschheit blicken können, schlagen sie vor, mit Hammer, Meisel, Brechstange und feiner Bürste. Die Aufklärung als Plagiatsfall, die Moderne als Sackgasse, Zivilisation als Resultat, wenn man den Kontrollgestörten die Entscheidungen überlässt. Die Götter wurden abgeschafft, das Geld regiert und alle stecken fest. „Anfänge“ bietet fast alles, was Bücher leisten können. Ethnografische Sorgfalt fürs Uninteressante, politisch kurzgeschlossene Urteile, Präambeln, Pläyoers und viel Stoff zum durchdenken. Sie haben die Großen verarbeitet und ihre Werke vom Kopf auf die Füße gestellt, aber an die Übergroßen haben sie sich nicht herangetraut. Karl Marx nur als Schlagwort geber, kein Wort zur Gesellschaftstheorie, insbesondere nicht von Niklas Luhmann. Alles in allem ein Buch, das gelesen werden muss, aber nicht zu ernst genommen werden darf. Tribunal als Spektakel und Angebot, Geschichte doch nochmal ein bisschen anders zu schreiben.

Die Notwendigkeit belegt die weitere Lektüre. Solaranlagen im Weltraum, ohne zu fragen, warum. Straßenverkehr als Weg in die Apokalypse, die uns Geld und Lebenszeit kostet. Das Homeoffice als Profitcenter, das uns leistungsfähig aber unzufrieden macht. Alle versuchen, Haltung zu bewahren. Wer aber wirklich noch Gifs verschickt, steht schon auf dem Abstellgleis. Auf die Spitze wird es in der Justiz getrieben. Graeber wirbt für den gesunden Menschenverstand, doch es gibt längst eine neue Klassenjustiz. Schon wer nicht auf Briefe antwortet, erklärt sich unbeabsicht für schuldig. Und all das, weil wir nicht zu wenig, sondern zu viel über Politik sprechen. Wir leben ein hyperpolitisches Leben, demnächst auch noch ohne Fachkräfte.

Im Februar lesen wir Patrick Kaczmarczyks „Kampf der Nationen“ als gemeinsame Lektüre.

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Literatur

  1. Es könnte auch alles ganz anders sein: David Graeber und David Wengrow erzählen in “Anfänge”, wie der Untertitel verspricht, “eine neue Geschichte der Menschheit”. Die Autoren werten anthropologische und archäologische Erkenntnisse neu aus, entlarven gängige Fortschrittsnarrative und konfrontieren uns mit Alternativen.
  2. Amelia Tait erklärt in “Vice”, warum GIFs bei jungen Leuten plötzlich out sind. Plus: Eine großartige Seite mit wichtigen Texten zu Krypto-Währungen und -Ideologien
  3. Autofahren kostet Geld und Leben. Neue Forschung schlüsselt die Misere auf und beziffert den Schaden für jeden Einzelnen. Andrea Reidl schreibt in der Zeit über die versteckten 5000 Euro jährlich und das 1 Jahr Leben.
  4. Anton Jäger sagt, die Zeit der Post-Politik ist vorbei, doch das führt nicht zurück zur Politik des 20. Jahrhunderts, sondern in die Hyper-Politik. Zu beobachten ist das auch anhand solch gegensätzlicher Bewegungen wie Fridays For Future und QAnon
  5. Querdenker leben in imaginierten Gemeinschaften des Protests. Sie selbst sind und bleiben vor allem eins: radikal und einsam. Markus Decker schrieb über die Menschen, denen einfach jemand zum reden fehlt.
  6. In Europa wird der Fachkräftemangel zu einem immer größeren Problem. Schweden setzt auf Steuervergünstigungen, Polen sucht in Nepal und Bangladesch nach Arbeitskräften. Das “Handelsblatt” bietet eine gute Übersicht
  7. Vor einem Jahr überforderte GameStop die Börsen. Heute kennen wir die Gewinner des Spektakels und sehen: Es liegt alles offen zutage. Im Economist wird ein neues Verständnis des Wirtschaftens angemahnt.
  8. Ronen Steinke sagt, dass wir in Deutschland eine Klassenjustiz haben, die vor allem arme Straftäter diskriminiert
  9. Das Home-Office ist für viele Beschäftigte und ihre Unternehmen heute Schicksal. Dominik Reintjes schreibt über die Profiteure der neuen Arbeitswelt.
  10. Eigentlich könnten wir auch eine Solaranlage im Erdorbit aufbauen und damit unser Energieproblem lösen, schreibt Karl Urban. Ob dies sinnvoll ist, ist eine andere Frage
  11. Wolfgang empfiehlt: „Babys für die Welt – Das Geschäft mit ukrainischen Leihmüttern“

 

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Wolfgang
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Stefan
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Mathias

3 Gedanken zu „Graebers Anfänge, Boomer-Gifs, Autoapokalypse, Hyperpolitik, Fachkräfte, 1 Jahr Gamestop, Klassenjustiz

  1. Topic

    Leider konnte ich den Link zu der Crypto News Seite, die Wolfgang empfohlen hat nirgends finden. Könnte den hier nochmal bitte jemand reinstellen?

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  2. Anonymous

    Das Geschichtsbild gegen das Graeber anschreibt, ist stark verbreitet in der ein oder anderen Form. Sowas wie der Holocaust wird einfach integiert als eine Art „historische Lehrstunde“ (wobei da Max Frisch bspw. als eine Art Parabelstück „Biedermann und die Brandstifter“ hier quasi ein Kommentar mitgab, da er das Stück untertitelte mit „Lehrstück ohne Lehre“).
    Man sieht eben diese Idee des Lernens bei den Assmans, wenn sie sagen, dass daraus die Europäische Union entstand oder NATO um Frieden zustiften (Ruth Klüger würde wahrscheinlich dagegen halten, dass man in Auschwitz eher weniger was über Frieden gelernt hat), bei Jordan Peterson, der an der individualisierung von Problemen festhält als Gegensatz zu Totalitarismus und kollektivismus, bei den konservativen historikern wie Hedwig richter oder Heinrich August winkel, die mehr oder weniger sagen, dass NS-zeit usw. ein ausfall in der deutschen geschichte war auf dem weg zur demokratie. man kann mal nach der Wikipedia seite zu „master narratives“ nachgucken, im prinzip sind das genau diese erzählungen, die die (nationale) Gegenwart als beste aller zeiten beschwören und diese Idee eben immer wieder von neuem erlegt werden muss.
    das ist auch das interessante an dieser Geschichte graebers, nämlich, dass die Aufklärung globalisierter gedacht wird und als austausch von ideen, kultur, waren usw., was so seit ca. den 80er Jahren eig versucht wird zu etablieren wie bspw. Jürgen Osterhammels „Die Verwandlung der Welt“ (womit auch das 19. jh als globale, dynamisierte Epoche versucht wird zu begründen). Bei Graeber besteht die Provokation aber eben noch darin, dass die aufklärung von den indigene bevölkerung ausgelöst sein soll, also von „unteren“ Völkern kam. so ähnlich kann man auch diese Bewegung der Aufklärung in den „unteren“ schichten suchen und finden.

    bei der Blockchain ist es schon technisch eig so, dass ja eine Liste (bzw. bei jedem Händler eine liste), die aufzeichnet, wann eine Transaktion getätigt wurde. d.h. das wäre wie wenn im echten leben man mit einem Euro bezahlt und jeder andere Händler müsste das mitbekommen und ein eintrag machen, dass diese Transaktion stattfand. dadurch kommen unmengen an Daten zusammen und im Prinzip wird das schon dadurch adabsurdum geführt. am Ende hat man dann ein unendlich großen (bürokratischen, informatischen) aufwand, damit das alles funktioniert.

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